„Wir müssen Mobilität völlig neu denken“

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29. April 2024, 15:23 Uhr

Artikel: „Wir müssen Mobilität völlig neu denken“

Smart Mobility statt Autopositas: Nach Jahrzehnten in der Autoindustrie macht sich Dr. Hans-Peter Kleebinder als unabhängiger Experte für die Mobilitätswende stark.

Zukunft Nahverkehr: Herr Kleebinder, ich fange mal mit einem Zitat an und Sie raten, von wem es ist. Einverstanden? 

Hans-Peter Kleebinder: Gerne. 

Zukunft Nahverkehr: Die Mobilitätsindustrie befindet sich in der größten und tiefgreifendsten Veränderung ihrer Geschichte. 

Hans-Peter Kleebinder: Da fallen mir viele ein. Ich habe das schon so erzählt, Professor Andreas Herrmann, Mit-Initiator und akademischer Direktor unseres Fitnessprogramms Mobilitätsrevolution … 

Zukunft Nahverkehr: Volltreffer, der war’s. Wie würden Sie diese tiefgreifende Veränderung beschreiben? 

Hans-Peter Kleebinder: In der Automobilindustrie hieß es schon vor gut zehn Jahren, dass die nächsten fünf Jahre mehr Veränderungen bringen würden wie die vergangenen 100 Jahre. Jetzt stecken wir mittendrin. Nicht nur in einer Mobilitätswende, sondern in einer Mobilitätsrevolution. De facto haben wir in Deutschland einen Verkehrsinfarkt. Ich kann nicht mehr sicher planen, wie ich von A nach B komme. Wir haben Staus, wir haben Streiks, wir haben eine dysfunktionale Infrastruktur, die marode und zum Teil kaputt ist. Wir haben es wirklich versäumt, uns rechtzeitig für die Zukunft vorzubereiten. Länder wie die Schweiz oder Österreich stehen heute viel besser da, weil sie langfristig planen und geplant haben. 

Zukunft Nahverkehr: Andreas Herrmann wirbt im Anschluss an sein Statement dafür, zu lernen, wie man die Chancen und Risiken dieser Transformation erfolgreich bewältigt und steuert. Ist das ein Rat, den sich auch die ÖPNV-Branche zu Herzen nehmen sollte? 

Hans-Peter Kleebinder: Ja, unbedingt. Ich glaube, dass die Branchen voneinander lernen können und müssen. Sie müssen in Zukunft enger zusammenarbeiten und aufeinander zugehen. Die Autoindustrie war sehr erfolgreich, hat unseren wirtschaftlichen Wohlstand geprägt und ein Fundament gebaut. Jetzt geht es darum, nicht nur als Automobilland, sondern auch als Mobilitätsland erfolgreich zu sein. Das kriegen wir aber nur gemeinsam hin. Deshalb versuchen wir in unserem berufsbegleitenden Executive Programm SMART Mobility Management driven by SMART Cities und SMART Data an der Universität St. Gallen wirklich alle Akteure des Mobilitätssektors an einem Tisch zusammenzubringen. 

Zukunft Nahverkehr: Der neue Exportschlager wäre dann also nicht mehr das Auto, sondern ein nachhaltiges und funktionierendes Mobilitätmodell? 

Hans-Peter Kleebinder: Es geht darum, Mobilität völlig neu zu denken und von Grund auf neu zu gestalten. In Zukunft werden wir uns nicht mehr von einzelnen Verkehrsmitteln – egal ob ÖPNV, Schiene oder Auto – abhängig machen. Stattdessen brauchen wir eine größere Vielfalt von intelligent miteinander vernetzten Angeboten. Das ist der Schlüssel. Denn wir haben genügend Fahrzeuge, wir haben genügend Schienen und wir haben genügend Straßen. Wir müssen aber auch den Wachstumsbegriff neu definieren. Das Modell „Autopositas“ – also immer mehr und immer teurere und schwerere, größere und leistungsstärkere Autos mit immer höheren Gewinnen zu verkaufen – ist, zumindest in Deutschland, in eine Sackgasse gefahren. 

Zukunft Nahverkehr: Wo soll die Wertschöpfung künftig stattfinden, wenn das alte Geschäftsmodell ausgedient hat? 

Hans-Peter Kleebinder: Wir brauchen eine Kopplung zwischen den Sektoren Mobilität, Energie und Daten. Die wachsen zusammen und dadurch entstehen komplett neue Geschäftsmodelle. Der Fokus liegt jetzt auf dem Wert und dem Nutzen von Mobilität. Der Film „Mobility is a Human Ride“ hat ja auf ganz wunderbare Art und Weise gezeigt, wie wichtig es ist, Mobilität für alle zugänglich zu machen und dass dieser Zugang genauso zur öffentlichen Daseinsfürsorge gehört wie Bildung und Gesundheit. Letztendlich werden wir das aber wohl nur schaffen, wenn wir auch unser Verhalten ändern und den Markt klüger regulieren. Das macht es so schwierig, und das ist die große Transformationsaufgabe … 

Zukunft Nahverkehr: … die nur gelingen kann, wenn viele mitziehen. Sie haben die Menschen mit „Go-Kart-Feeling“ für den Mini Cooper begeistert, mit „Freude am Fahren“ für BMW und mit „Vorsprung durch Technik“ für Audi gewonnen. Wäre das nicht auch für ÖPNV und Mobilitätswende möglich?  

Hans-Peter Kleebinder: Die Schweizer und Österreicher haben es geschafft und sind stolz auf ihre Bahn. Also es geht auf jeden Fall. Aber Autoindustrie und ÖPNV unterscheiden sich in Hinblick auf Produktmerkmale und Geschäftsmodelle enorm. In der Autoindustrie ist es das Auto selbst, das mir als Kunden eine breite Palette an Personalisierungsmöglichkeiten bietet: Mein Stil, mein Status und das Fahrzeug stehen im Mittelpunkt der Kommunikation. Das Auto präsentiert meinen persönlichen Lebensstils nach außen, ist mein Statement. ÖPNV hingegen ist die Bereitstellung einer Dienstleistung, kein individuelles, sondern ein kollektives Erlebnis und Rückgrat einer nachhaltigen, gemeinschaftlich orientierten Mobilität. Das beißt sich. ÖPNV ist ein kollektives Gesellschaftsthema, weshalb er in Asien auch einen anderen Stellenwert hat als bei uns. Letztlich ist dieses kollektive Verständnis besser für die Nachhaltigkeit, den Umweltschutz und den Planeten.  

Zukunft Nahverkehr: Trotzdem scheint es auch in Ihrer Smart-Mobility-Vision Raum für persönliche automobile Statements zu geben. Sonst würden Sie nicht als Chief Brand Guardian für den Kleinstwagen Microlino die Werbetrommel rühren. 

Hans-Peter Kleebinder: Absolut. Wir legen rund 80 Prozent unserer Wege innerhalb von Städten zurück, zwei Drittel davon sind nicht länger als dreieinhalb Kilometer. Deshalb bin ich ein Fan von Mikromobilität, von flexibleren, kleineren und nachhaltigeren Angeboten, die einen geringeren ökologischen Fußabdruck haben und meine urbanen Mobilitätsbedürfnisse erfüllen – Fahrräder, Lastenräder, E-Scooter, Leichtelektrofahrzeuge und dergleichen. Gleichzeitig müssen wir diese Fortbewegungsmittel nicht mehr besitzen. Es genügt, jederzeit zwischen möglichst vielen vernetzen Alternativen wählen zu können. Autos werden sicherlich dazugehören, je kleiner, um so besser. Jederzeit die Wahl zu haben und doch kein eigenes Auto besitzen zu müssen: Genau das ist die neue Form von Freiheit, die es zu entdecken gilt. Im Prinzip ist das auch der Kern dessen, was ich Smart Mobility nenne: Es geht darum, den ökologischen Fußabdruck unserer Mobilität zu optimieren und zugleich ihr Potenzial und ihren Nutzen, aber auch die Freiheit und die Freude, die sie stiftet, weiterhin für unser aller Wohl zu bewahren. Wir können es uns einfach nicht mehr leisten, so weiterzumachen wie bisher, weil wir nur diesen einen Planeten haben.